Neurodiversität ist ein Begriff, der in der Arbeitswelt zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gemeint ist die Vielfalt neurologischer Veranlagungen – etwa ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Dyslexie oder Tourette – die nicht als krankhafte Abweichungen, sondern als Teil menschlicher Vielfalt verstanden werden. Lange galten diese neurobiologischen Unterschiede vor allem als Stigma oder Defizit. Heute beginnt sich die Perspektive zu drehen: Unternehmen erkennen das Potenzial einer oft übersehenen Gruppe von Talenten.
Schätzungen des Bundesverbands für Legasthenie und Dyskalkulie zufolge sind etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung neurodivergent. Dennoch scheitern viele am klassischen Bewerbungsverfahren oder erleben Diskriminierung im Joballtag. Aus Angst vor Missverständnissen oder Vorurteilen verschweigen viele ihre Diagnose – ein Umstand, der Unternehmen letztlich Innovationskraft kosten kann. Denn verschiedene Studien belegen, dass neurodiverse Teams in bestimmten Kontexten besser abschneiden: Sie sind kreativer, anpassungsfähiger und bringen neue Perspektiven in Routinen. Eine Untersuchung der Harvard Business School in Zusammenarbeit mit Deloitte Australia aus dem Jahr 2017 kam zu dem Schluss, dass divers und inklusiv aufgestellte Teams bis zu sechsmal innovativer arbeiten als homogene Gruppen.
Ein Unternehmen, das frühzeitig auf neurodivergente Talente gesetzt hat, ist SAP. Mit dem Programm „Autism at Work“, das 2013 ins Leben gerufen wurde, will der Softwarekonzern gezielt Menschen mit Autismus einstellen und fördern. Dabei geht es nicht nur um Einstellung, sondern auch um langfristige Integration: strukturierte Onboarding-Prozesse, angepasste Arbeitsumgebungen, regelmäßiges Coaching und ein sensibler Umgang mit sensorischen Reizen zählen zum Konzept. Heute sind über 180 Autist:innen in 16 Ländern bei SAP tätig. Besonders im Bereich Software-Testing und Datenanalyse zeigen sie herausragende Leistungen, wie Anka Wittenberg, langjährige Diversity-Leiterin des Konzerns, in mehreren Interviews betont hat. Für viele von ihnen bedeutet die Arbeitswelt erst durch diese gezielten Maßnahmen einen Ort der Teilhabe.
Doch nicht nur Autismus, auch ADHS wird heute neu betrachtet. Was landläufig mit Unruhe, Ablenkbarkeit oder Impulsivität assoziiert wird, kann sich unter den richtigen Rahmenbedingungen in Innovationsfreude, Hyperfokus und kreatives Denken verwandeln. Die Psychiaterin Prof. Dr. Alexandra Philipsen von der Universität Bonn betont, dass ADHS im Erwachsenenalter häufig übersehen werde, dabei aber gerade im Berufsleben einen Unterschied machen könne – sowohl positiv als auch negativ. In einem Fachinterview im „Deutschen Ärzteblatt“ erklärte sie, dass betroffene Personen vor allem von klaren Strukturen, Reizreduktion und verständnisvoller Führung profitieren. In dynamischen Berufsfeldern wie Werbung, Medien oder IT zeigen sich die Stärken besonders deutlich – wenn die Arbeitsumgebung die nötige Flexibilität bietet.
Für Personalabteilungen ergibt sich daraus eine doppelte Herausforderung: Einerseits geht es darum, neurodivergente Talente zu erkennen, ohne auf stereotype Zuschreibungen hereinzufallen. Andererseits müssen bestehende Prozesse hinterfragt und angepasst werden. Dazu gehört etwa die Gestaltung von Jobanzeigen – verständlich formuliert, mit Fokus auf konkrete Aufgaben statt auf vage Soft Skills. Auch das Bewerbungsgespräch als klassisches Auswahlinstrument ist für viele Neurodivergente eine Hürde: Small Talk, unklare Fragen oder soziale Bewertungssituationen führen häufig dazu, dass Potenziale unentdeckt bleiben. Einige Unternehmen experimentieren bereits mit Alternativen wie Arbeitsproben, strukturierter Kommunikation oder begleiteten Onboarding-Phasen.
Laut einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2022 wünschen sich 62 Prozent der neurodivergenten Befragten individuellere Arbeitsbedingungen – von der Lichtgestaltung im Büro über Rückzugsräume bis hin zu nonverbaler Kommunikation oder angepassten Pausenregelungen. Auch das Homeoffice spielt hier eine Schlüsselrolle, da es vielen eine reizärmere und kontrollierbare Arbeitsumgebung bietet. Der Trend zur hybriden Arbeit eröffnet also neue Chancen – wenn Unternehmen diese gezielt für Inklusion nutzen.
Großkonzerne wie Microsoft, IBM oder EY haben Neurodiversität längst als strategischen Erfolgsfaktor erkannt. Sie rekrutieren gezielt neurodivergente Fachkräfte, bieten Coaching-Programme an und fördern intern das Bewusstsein für neurologische Vielfalt. Die Erfolge zeigen sich nicht nur in Kennzahlen wie Mitarbeiterbindung oder Innovationsoutput, sondern auch in der Unternehmenskultur. Wenn Unterschiedlichkeit nicht mehr als Störung, sondern als Ressource begriffen wird, entstehen Räume für echte Teilhabe – und für neue Ideen.
Auch kleine und mittlere Unternehmen müssen sich nicht scheuen. Viele Maßnahmen lassen sich mit wenig Aufwand umsetzen: flexible Arbeitszeiten, transparente Kommunikation, strukturierte Arbeitsabläufe oder Mentoring-Programme. „Es braucht nicht immer große Budgets, sondern vor allem Offenheit, Sensibilität und Bereitschaft zum Umlernen“, sagt Dr. Melanie Guhl, Arbeitspsychologin mit Schwerpunkt Neurodiversität. In ihrer Beratungspraxis erlebt sie immer wieder, wie schon kleine Veränderungen eine große Wirkung entfalten können – für die Betroffenen und für das Team.
Neurodiversität ist mehr als ein Buzzword – sie ist ein Aufruf, die Arbeitswelt neu zu denken. Wer heute Strukturen schafft, in denen Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen neurodivergenten Profilen nicht nur funktionieren, sondern sich entfalten können, erschließt eine bisher ungenutzte Quelle von Innovation, Loyalität und Kreativität. In einer Zeit, in der der Fachkräftemangel drückt und Arbeitswelten sich rasant verändern, kann gerade diese Perspektive zum entscheidenden Vorteil werden.