Was passiert, wenn Unternehmen Diversität wirklich zulassen

Als die Boston-Consulting-Group-Partnerin Rocío Lorenzo vor einigen Jahren die Innovationskraft europäischer Unternehmen untersuchte, stieß sie auf einen Zusammenhang, der bis heute in Vorstandsetagen zirkuliert: Managementteams mit hoher Diversität erzielen im Schnitt 19 Prozent höhere Innovationsumsätze. „Innovation entsteht dort, wo unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen“, sagt Lorenzo, deren Studie zum Referenzpunkt der Debatte wurde.

Doch in deutschen Unternehmen reduziert sich Diversität bis heute häufig auf Genderquoten, obwohl Forschung längst zeigt, dass kulturelle Herkunft, soziale Mobilität, kognitive Vielfalt und neurodiverse Denkweisen entscheidende Hebel sind. Die Arbeitssoziologin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, weist seit Jahren auf die soziale Blindheit vieler Firmen hin. „Wir reden über Geschlecht, aber wir übersehen soziale Herkunft – und damit einen der stärksten Prädiktoren für Karrierechancen.“ Die empirische Basis dafür ist breit: Der Sozio-oekonomische Panelbericht zeigt regelmäßig, dass Kinder aus nicht-akademischen Haushalten selbst bei gleicher Qualifikation seltener Führungspositionen erreichen.

Allmendinger nennt das „eines der größten ungenutzten Talentpotenziale deutscher Unternehmen“. Wie stark Vielfalt wirtschaftlich wirkt, belegt auch die Forschung der Carnegie Mellon University. Die Verhaltenswissenschaftlerin Anita Woolley zeigte in Science, dass Gruppen mit hoher sozialer Sensitivität und kognitiver Vielfalt eine signifikant höhere „kollektive Intelligenz“ entwickeln – also komplexe Probleme schneller und besser lösen. „Es ist nicht die individuelle Brillanz“, sagt Woolley, „sondern die Vielfalt der Denkweisen, die Teams leistungsfähig macht.“ Ein weiterer Faktor wird in Unternehmen häufig unterschätzt: Neurodiversität. Der Harvard Business Review beschreibt in einem vielzitierten Beitrag von Robert D. Austin und Gary P. Pisano, dass neurodiverse Teams – etwa mit Autisten, ADHS-Betroffenen oder Dyslektiker:innen – bei passenden Arbeitsbedingungen bis zu 30 Prozent produktiver arbeiten.

Viele deutsche Unternehmen hinken hier hinterher, weil sie neurodiverse Talente nicht systematisch rekrutieren oder ihre Arbeitsumgebungen nicht anpassen. „Die größte Barriere ist nicht die Diagnose, sondern die Struktur“, sagt Austin. Parallel dazu wächst die Bedeutung interkultureller Zusammenarbeit. Der McKinsey-Report „Diversity Wins“ (2020) zeigt, dass kulturell vielfältige Unternehmen bis zu 36 Prozent höhere Profitabilität erzielen. Gleichzeitig warnen die Autor:innen: Dieser Effekt tritt nur ein, wenn Vielfalt nicht dekorativ bleibt, sondern zu echter Entscheidungsvielfalt führt. „Diversity ohne Inklusion ist ein leeres Versprechen“, schreiben sie. Für die deutsche Wirtschaft wird das zunehmend zum Problem.

Eine Studie des ifo Instituts aus dem Jahr 2024 zeigt, dass vor allem jüngere Beschäftigte mangelnde Inklusion nicht mehr tolerieren: Fast 40 Prozent der unter 35-Jährigen geben an, ihren Arbeitgeber wegen fehlender oder unzureichender Diversity-Strategien gewechselt zu haben oder wechseln zu wollen. „Die junge Generation betrachtet Diversität nicht als Zusatznutzen, sondern als Grundvoraussetzung“, sagt Oliver Falck, Leiter des ifo-Zentrums für Industrieökonomik. Diese Erwartungshaltung macht sich auch international bemerkbar. Laut dem OECD-Report „Diversity and Inclusion in the Workplace“ (2020) haben Unternehmen mit konsistenter Diversity-Strategie eine um 60 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, Top-Talente aus dem Ausland zu gewinnen. „Wer Vielfalt nicht ernst nimmt, verliert im globalen Wettbewerb“, sagt OECD-Direktorin Mari Kiviniemi. Dass sich das nicht nur in abstrakten Kennzahlen niederschlägt, bestätigt auch eine Meta-Analyse des Journal of Management. Sie zeigt, dass vielfältige Teams schneller lernen, resilienter sind und langfristig bessere Entscheidungen treffen.

Diversität ist damit längst kein moralisches Projekt mehr, sondern ein messbarer Business Case – und zugleich ein Risiko, wenn Unternehmen es falsch angehen. Denn oberflächliche Maßnahmen erzeugen laut Harvard-Professorin Francesca Gino „mehr Frustration als Fortschritt“. Viele Unternehmen setzen auf symbolische Programme, ohne strukturelle Barrieren abzubauen. „Inklusion entsteht nicht durch Kampagnen, sondern durch veränderte Machtverhältnisse“, sagt Gino. Genau an diesem Punkt ringen viele Firmen. Die Bereitschaft, Vielfalt wirklich zuzulassen – nicht als Projekt, sondern als Veränderung – entscheidet darüber, ob Diversität Innovation freisetzt oder Widerstand erzeugt. Das bestätigen Forschung, Wirtschaft und politische Beratung gleichermaßen: Diversität ist längst weit mehr als Gender. Und Unternehmen, die das begreifen, gewinnen. Nicht, weil sie bunter sind. Sondern weil sie besser sind.

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