Von außen sieht es aus wie Freiheit: morgens den Laptop aufklappen, im Hoodie am Küchentisch sitzen, keine Pendelwege, keine Großraumbüros, keine Dresscodes. Doch in der scheinbar so flexiblen Welt der hybriden Arbeit wächst eine stille Erschöpfung. Immer mehr Menschen berichten von Konzentrationsproblemen, emotionaler Leere und digitaler Reizüberflutung. Die Ursache ist diffus, aber verbreitet – und sie hat einen Namen: Digital Fatigue. Eine Art Bildschirmmüdigkeit, die vor allem in Arbeitsmodellen auftritt, die zwischen Homeoffice und Präsenzpflicht, zwischen Slack und Zoom pendeln.
„Digital Fatigue ist das neue Burnout der Bildschirmgeneration“, sagt Tanja Singer, Neurowissenschaftlerin und Sozialpsychologin am Max-Planck-Institut in Leipzig. „Die Dauerpräsenz in digitalen Räumen bringt unser Nervensystem aus dem Gleichgewicht – vor allem, wenn die soziale Interaktion stark verarmt.“ Und das tut sie in vielen Fällen. Hybrides Arbeiten mag die Kontrolle über Zeit und Raum erhöhen, doch es atomisiert auch das soziale Gefüge. Der Plausch an der Kaffeemaschine fällt aus, die Zwischentöne verschwinden, Körpersprache bleibt unbemerkt. Was bleibt, sind hochfrequente Kommunikationskanäle – E-Mails, Messenger, Kalenderbenachrichtigungen. Und ein Gefühl permanenter Verfügbarkeit.
Dass diese Form des Arbeitens gekommen ist, um zu bleiben, bezweifelt niemand mehr. Laut einer Erhebung des ifo Instituts arbeiten in Deutschland rund 25 Prozent der Beschäftigten regelmäßig im Homeoffice – Tendenz stabil (ifo Institut, 2024). Unternehmen loben die Effizienz, Angestellte die Autonomie. Doch die Kehrseite dieser neuen Freiheit ist eine tiefgreifende Fragmentierung des Arbeitstages. Zwischen physischen Besprechungen, asynchronen Tools und digitalen Meetings bleibt wenig Raum für Regeneration – geistig wie emotional.
„Viele Mitarbeitende berichten, dass sie sich ständig ‚an‘ fühlen müssen – auch nach Feierabend“, sagt Sabine Remdisch, Professorin für Arbeitspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. In einer gemeinsamen Studie mit dem Hasso-Plattner-Institut untersuchte sie, wie Führung in virtuellen Teams funktionieren kann – mit ernüchternden Erkenntnissen: „Es fehlt oft an digitaler Achtsamkeit. Führungskräfte unterschätzen, wie stark ihre Mitarbeitenden durch die permanente digitale Taktung überfordert sind.“ Ein Meeting jagt das nächste, oft ohne Pause, ohne Struktur – und ohne klares Ziel.
Was viele nur diffus empfinden, lässt sich inzwischen auch wissenschaftlich belegen. Bereits 2021 entwickelte der Stanford-Forscher Jeremy Bailenson eine Skala zur Messung von sogenannter Zoom Fatigue. Seine Studien zeigten: Lange und häufige Videokonferenzen erhöhen das Stressniveau messbar, besonders bei Frauen. Einer der Hauptgründe liegt in der ständigen Sichtbarkeit des eigenen Gesichts. „Ständig das eigene Bild zu sehen und gleichzeitig Blickkontakt zu simulieren, überfordert unser Gehirn“, so Bailenson. Hinzu kommt, dass wichtige nonverbale Signale – etwa Nicken, Deuten oder Mimik – digital kaum transportiert werden. Die Folge: eine subtile soziale Erschöpfung, die sich über den Tag hinweg aufstaut (Stanford Virtual Human Interaction Lab, 2021).
Doch was können Unternehmen und ihre Führungskräfte konkret tun, um diese Form der Erschöpfung zu lindern? Erste Antworten kommen aus der Praxis. Der Softwarekonzern Microsoft hat in vielen Abteilungen sogenannte „No Meeting Days“ eingeführt – etwa dienstags oder donnerstags –, an denen keine virtuellen Besprechungen stattfinden. Laut dem firmeneigenen Work Trend Index berichten Mitarbeitende seither von mehr Konzentrationsphasen, höherer Produktivität und spürbar weniger Erschöpfung (Microsoft Work Trend Index, 2023). Auch die Struktur klassischer Meetings wird überdacht: 50 Minuten statt 60, bewusste Pausen, klar definierte Ziele. Und: Nicht jede Absprache braucht ein Zoom-Meeting. Manches lässt sich effizienter per Sprachnachricht oder gemeinsamem Dokument klären.
Manche Unternehmen gehen noch weiter. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) etwa haben einen „Digital Wellbeing Code“ eingeführt. Die Regeln: keine E-Mails nach 18 Uhr, keine Videokonferenzen vor 9 Uhr, regelmäßige Feedbackrunden zum digitalen Stresslevel. „Es geht um digitale Hygiene – und die beginnt ganz oben“, sagt Claudia Bachmann, HR-Leiterin der SBB, im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ, 2023). Eine Kultur, die digitale Achtsamkeit nicht nur predigt, sondern vorlebt.
Dabei spielt auch der analoge Raum eine Rolle – selbst in digitalen Organisationen. Teams, die sich regelmäßig persönlich treffen, etwa bei monatlichen Offsite-Tagen oder bei bewusst nicht-digitalen Aktivitäten wie Spaziergängen oder informellen Mittagessen, berichten laut Umfragen über ein höheres Maß an psychologischer Nähe und Vertrauen. „Die digitale Distanz ist kein Naturgesetz“, sagt die Berliner New-Work-Beraterin Nora Dietrich. „Führung heißt heute auch: Räume für Menschlichkeit schaffen.“
Einige Arbeitgeber investieren zudem in präventive Maßnahmen. So bietet der Softwarekonzern SAP seinen Mitarbeitenden Programme wie „Search Inside Yourself“ an, das ursprünglich bei Google entwickelt wurde. Die Inhalte: Achtsamkeit, Atemübungen, Zeitmanagement, emotionale Selbstregulation. Ziel ist es, die digitale Selbststeuerung zu fördern – bevor die Erschöpfung sich festsetzt (SAP News, 2023).
Das eigentliche Problem liegt jedoch tiefer. Denn Digital Fatigue ist kein individuelles Defizit, sondern ein strukturelles Phänomen. Sie entsteht nicht, weil jemand „nicht stressresistent genug“ ist, sondern weil Systeme falsch gestaltet sind. Deshalb genügt es nicht, nur die Symptome zu behandeln. Es braucht eine grundsätzliche Neuausrichtung von Führungskultur: weg von Dauerverfügbarkeit und ständiger Taktung, hin zu echter Selbstbestimmung, bewusster Kommunikation und respektvollem Umgang mit Aufmerksamkeit als begrenzter Ressource.
„Je digitaler unsere Arbeit wird, desto analoger muss unsere Führung werden“, sagt Neurowissenschaftlerin Singer. Es ist ein Satz, der einfach klingt – und doch einen Paradigmenwechsel beschreibt. Denn in einer Arbeitswelt, in der Algorithmen mitplanen und Kalender sich selbst füllen, sind es nicht Effizienz oder Technik, die über Wohlbefinden entscheiden, sondern Empathie, Pausen – und die Fähigkeit, auch mal offline zu sein.