Wie Achtsamkeit und Resilienz-Coaching Führungskräfte stärken – und Unternehmen sich neu erfinden müssen
Führungskräfte tappen heute in viele Stressfallen. Ständige Erreichbarkeit, überbordende To‑do‑Listen und permanente Ungewissheiten prägen das neue „Age of Anxiety“. Das bleibt nicht folgenlos: Laut einer Studie des internationalen Fachjournals BMC Psychology zeigen Führungskräfte mit gering ausgeprägter Achtsamkeit signifikant höhere Stresswerte und eine höhere Wechselbereitschaft als achtsame Kolleginnen und Kollegen. Auch die Mitarbeitenden leiden: Eine Umfrage der DAK-Gesundheit ergab bereits 2022, dass psychische Erkrankungen zu den häufigsten Gründen für Krankmeldungen zählen – mit steigender Tendenz.
Achtsamkeit wirkt – unabhängig von Position
Der Begriff „Achtsamkeit“ wurde in der westlichen Welt maßgeblich von Jon Kabat-Zinn geprägt. Sein MBSR-Programm (Mindfulness-Based Stress Reduction), das ursprünglich für chronisch kranke Patient:innen entwickelt wurde, wird inzwischen in vielen Unternehmen eingesetzt – als Präventionsmaßnahme gegen Burn-out und psychische Erschöpfung. Studien zeigen, dass regelmäßige Achtsamkeitspraxis nicht nur Stress reduziert, sondern auch die emotionale Intelligenz und Selbstregulation von Führungskräften erhöht. Eine Metaanalyse der University of British Columbia (2019), veröffentlicht auf ResearchGate, kam zu dem Schluss: Mindfulness-Based Programs (MBP) in Unternehmen senken signifikant Stresslevel und verbessern das Wohlbefinden – bei gleichzeitig messbar höherer Arbeitszufriedenheit.
Auch eine aktuelle Untersuchung des Journal of Occupational and Environmental Medicine (Juli 2024) weist darauf hin, dass nicht nur individuelle Achtsamkeit zählt, sondern auch die Umgebung: Teams mit achtsamer Führungskultur zeigten weniger Fehlzeiten, niedrigere Fluktuation und eine höhere psychische Widerstandsfähigkeit. Diese multilevel-orientierte Achtsamkeit – also Maßnahmen auf individueller, teambezogener und organisatorischer Ebene – gilt inzwischen als neuer Goldstandard im Leadership-Development.
Resilienz ist erlernbar
Lange galt Resilienz – also die Fähigkeit, auch in Krisenzeiten psychisch stabil zu bleiben – als Persönlichkeitseigenschaft. Inzwischen zeigen Studien: Resilienz kann trainiert werden. Laut dem Resilienz-Report der Universität Zürich (2022) helfen gezielte Maßnahmen wie Selbstreflexion, Achtsamkeit und lösungsorientiertes Denken, um die innere Widerstandskraft aufzubauen. Besonders wirksam seien strukturierte Resilienz-Coachings mit regelmäßigen Feedbackphasen.
Der Anbieter Awaris, der für Konzerne wie SAP oder Lufthansa Programme zur „Leadership Resilience“ entwickelt, setzt dabei auf eine Kombination aus achtsamkeitsbasierter Selbstführung, systemischer Reflexion und neurobiologischen Grundlagen. „Resiliente Führung bedeutet nicht, unverwundbar zu sein“, sagt Awaris-Co-Gründerin Dr. Angelika von der Assen, „sondern bewusst zu steuern, wie ich mit innerem Druck umgehe.“
Auch Patrizia Evangelisti, Psychologin und Coach, kommt in ihrer Masterarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz zu dem Schluss, dass Achtsamkeit nicht nur die Selbstwahrnehmung und Empathiefähigkeit von Führungskräften stärkt, sondern auch deren Stressresistenz. Ihre Arbeit basiert auf Interviews mit Führungskräften im Gesundheitswesen – einer Branche, die besonders von Überlastung betroffen ist.
Ein neuer Führungsstil entsteht
In vielen Unternehmen zeichnet sich ein Kulturwandel ab: weg von autoritärer Kontrolle, hin zu einer achtsameren, begleitenden Führung. Das Konzept der „compassionate leadership“, das unter anderem von der Psychologin Kristin Neff erforscht wird, betont Selbstmitgefühl als Basis emotional intelligenter Führung. Wer sich selbst achtsam begegnet, handelt klarer, mitfühlender – und weniger reaktiv.
Das zeigen auch Daten aus der internationalen MINDFUL-Leader-Studie (2023): Führungskräfte mit hoher Achtsamkeitskompetenz gaben an, besser mit Konflikten umgehen und empathischer kommunizieren zu können. Die positiven Effekte reichten bis in die Teamleistung: Weniger Mikro-Management, mehr Selbstverantwortung, höhere Bindung.
Was Unternehmen konkret tun können
Die gute Nachricht: Achtsamkeit lässt sich in den Arbeitsalltag integrieren – auch ohne großen Aufwand. Führungskräfte-Coachings, achtsame Meeting-Kulturen, kurze Meditationen oder „Silent Start“-Formate schaffen Inseln der Präsenz. Die Achtsamkeitsexpertin Dr. Britta Hölzel, Neurowissenschaftlerin und Leiterin des „Institut für Achtsamkeit“, verweist darauf, dass bereits zehn Minuten täglicher Übung zu messbaren neuronalen Veränderungen im präfrontalen Kortex führen – dem Bereich für Emotionsregulation und Entscheidungsfindung.
Zukunftsorientierte Unternehmen erkennen das Potenzial. Laut einer Umfrage von LinkedIn Learning (2024) zählen Achtsamkeit, emotionale Intelligenz und Resilienz zu den drei wichtigsten „Leadership Skills der Zukunft“. Führung, so scheint es, ist weniger eine Frage der Effizienz – sondern der inneren Haltung.
Achtsamkeit ist kein Soft Skill, sondern Führungsnotwendigkeit
Im „Age of Anxiety“ reicht operative Brillanz nicht mehr aus. Wer führen will, muss emotional präsent sein. Achtsamkeit ist dabei keine Wohlfühlmaßnahme, sondern ein strategisches Instrument: für Klarheit, Resilienz und gesunde Beziehungen – zu sich selbst und zu anderen.
Oder, wie es Jon Kabat-Zinn formuliert: „You can’t stop the waves, but you can learn to surf.