Wenn Erschöpfung ihren Wert verliert: Warum wir emotionale Notrufe nicht mehr hören

In einem Coaching-Gespräch mit einem mittelständischen Unternehmen wurde eine Szene geschildert, die viele heute aus dem Arbeitsalltag kennen dürften: Während eines Meetings äußerte ein Mitarbeiter leise, dass er sich überlastet fühle. Die Reaktion? Ein kurzes Nicken – dann Stille. Das Gespräch ging weiter, als sei nichts gesagt worden. Später, im informellen Austausch, gaben drei weitere Kollegen zu, dass es ihnen genauso gehe. Einer sagte: „Ich bin auch völlig erschöpft – aber wen interessiert das schon?“

Diese Episode steht exemplarisch für ein Phänomen, das in vielen Organisationen zunehmend zu beobachten ist – und das sich treffend als psychische Inflation beschreiben lässt: die schleichende Entwertung emotionaler Signale in einer Arbeitswelt, in der Erschöpfung zur Routine geworden ist.

Die stille Krise hinter dem Schweigen

In der Ökonomie bedeutet Inflation, dass eine Währung durch Überangebot an Wert verliert. Übertragen auf die emotionale Kommunikation im Berufsleben heißt das: Wenn Überlastungssignale alltäglich werden, verlieren sie ihre Wirkung. Aussagen wie „Ich kann nicht mehr“ oder „Ich bin am Limit“ verkommen zu Hintergrundgeräuschen – nicht mehr ernst genommen, sondern bestenfalls höflich übergangen.

Die Soziologie hat dieses Phänomen längst erkannt. Eva Illouz spricht in ihrer Forschung zur Emotionalisierung moderner Gesellschaften davon, dass Gefühle zunehmend funktionalisiert werden – bis sie sich abnutzen. In Unternehmen wird das besonders deutlich: Emotionen werden oft nicht mehr als authentisch, sondern als strategisch wahrgenommen. Die Folge: Misstrauen, Abstumpfung, Rückzug.

Was die Neurowissenschaft erklärt

Auch die Neurowissenschaft liefert eine Erklärung: Das menschliche Gehirn reagiert auf wiederholte Reize mit Habituation. Das bedeutet, dass die Reizverarbeitung bei ständiger Wiederholung abnimmt. Die Amygdala, unser „emotionales Frühwarnsystem“, schlägt beim ersten Hilferuf noch Alarm – beim zehnten oder zwanzigsten Mal kaum noch.

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften zeigt, dass die neuronale Reaktion auf wiederholte emotionale Signale um bis zu 71 Prozent abnimmt. Das erklärt, warum selbst empathische Kollegen oder Vorgesetzte irgendwann nicht mehr auf Belastungssignale reagieren können: Ihr emotionales System ist schlicht überfordert.

Wenn Erschöpfung zur Währung wird

In vielen Unternehmen gilt: Wer viel arbeitet, ist wertvoll. Wer überlastet ist, zeigt Engagement. Wer entspannt wirkt, steht schnell unter Rechtfertigungsdruck. In diesem Klima wird Erschöpfung zu einem sozialen Statussymbol. Sie wird zur unausgesprochenen Währung, mit der Zugehörigkeit, Einsatz und Leistungsbereitschaft signalisiert werden.

Das Resultat ist eine paradoxe Kultur: Manche überzeichnen ihre Belastung, um ernst genommen zu werden. Andere schweigen, weil sie spüren, dass jeder Hilferuf ungehört verhallt. Wer nicht laut ist, geht unter. Wer zu oft warnt, wird überhört. Was bleibt, ist eine stille Resignation.

Was Unternehmen dagegen tun können

Psychische Inflation ist kein individuelles Problem. Sie ist ein Symptom struktureller Überforderung. Um dem entgegenzuwirken, braucht es mehr als gutes Zuhören – es braucht eine neue Kultur der emotionalen Aufmerksamkeit.

Drei konkrete Ansätze:

  • Raum für echte Gespräche: Vorgesetzte sollten aktiv Gesprächsanlässe schaffen – nicht nur in der Krise. Es reicht nicht, auf Signale zu warten. Präventive Kommunikation ist Schlüssel zur Entlastung.
  • Emotionale Hygiene fördern: Regelmäßige Reflexion, kollegiale Beratung und Supervision sollten Bestandteil der Unternehmenskultur sein – nicht als „nice to have“, sondern als Schutzfaktor.
  • Klarheit und Authentizität: Wer ständig erschöpft wirkt, ohne konkret zu benennen, was überfordert, trägt ungewollt zur Entwertung von Signalen bei. Es braucht eine Rückbesinnung auf klare, ehrliche Kommunikation – mit Maß und Wirkung.

Zuhören ist kein Luxus

Psychische Inflation ist kein unausweichliches Schicksal. Sie ist ein Alarmsignal für einen kollektiven Erschöpfungszustand. Aber dieser Zustand ist veränderbar. Unternehmen, die emotionale Signale wieder ernst nehmen, stärken nicht nur die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter – sie fördern auch Vertrauen, Zusammenhalt und Resilienz.

Denn: Wer gehört wird, bleibt. Wer ignoriert wird, geht.

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