Es ist ein verregneter Dienstagmorgen, als Markus Neumann seinen Laptop aufklappt. Der 38-jährige Maschinenbauingenieur arbeitet seit über zehn Jahren in der Automobilindustrie. Früher war sein Alltag geprägt von Stücklisten, Effizienzberechnungen und Produktionslinien. Heute sitzt er an einem Projekt, das die komplette Fertigungsstraße seines Werks auf klimaneutrale Prozesse umstellen soll. „Vor zwei Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Nachhaltigkeitskennzahlen berechnen würde“, sagt er und schmunzelt. „Jetzt ist das mein Alltag – und meine Chance.“
Neumann ist kein Einzelfall. Immer mehr Beschäftigte in Deutschland und weltweit stehen an ähnlichen Wendepunkten. Nachhaltigkeit ist längst kein Randthema mehr, sondern wird zum Karrierefaktor. Über alle Branchen hinweg steigt der Bedarf an Fachkräften mit sogenannten „Green Skills“. Ob in Banken, die ESG-Richtlinien erfüllen müssen, in der Industrie, die ihre Lieferketten umstellt, oder in Start-ups, die an Kreislaufwirtschaft und erneuerbaren Energien tüfteln: Wer Nachhaltigkeitskompetenzen mitbringt, hat auf dem Arbeitsmarkt beste Karten.
Zahlen untermauern diesen Trend. LinkedIn wertete jüngst Millionen von Profilen weltweit aus und stellte fest, dass der Anteil an „grünen Fähigkeiten“ in Stellenanzeigen in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 40 Prozent gestiegen ist. Auch das Weltwirtschaftsforum weist im „Future of Jobs Report“ darauf hin, dass Nachhaltigkeit inzwischen zu den Top-Skillsets gehört, die Unternehmen in den kommenden Jahren benötigen. Besonders gefragt sind Kenntnisse in nachhaltigem Supply-Chain-Management, ESG-Reporting und Energieeffizienz. „Wir beobachten einen massiven Shift“, erklärt Karin Müller, Arbeitsmarktforscherin am Institut der deutschen Wirtschaft. „Früher war IT-Kompetenz der entscheidende Hebel, heute gilt das zunehmend für Nachhaltigkeitswissen. Wer diese Qualifikationen hat, ist nicht nur gefragt, sondern kann seine Karriere beschleunigen.“
Die Liste neuer Berufsbilder wächst rasant. Unternehmen schreiben Stellen für ESG-Manager, Nachhaltigkeitscontroller oder Sustainable Supply Chain Analysts aus. Doch auch traditionelle Berufe verändern sich. Ingenieurinnen entwickeln nicht mehr nur Motoren, sondern Konzepte für Wasserstoffantriebe. Marketingabteilungen müssen erklären, wie nachhaltig Produkte wirklich sind. Personalverantwortliche werben um junge Talente mit glaubwürdigem „Green Employer Branding“. Die Deutsche Bank etwa hat ihre Abteilung für „Sustainable Finance“ in den vergangenen zwei Jahren massiv ausgebaut, allein in Frankfurt wurden über hundert Spezialisten eingestellt, die Investitionsentscheidungen nach ESG-Kriterien bewerten. Auch in der Bauwirtschaft steigt der Bedarf: Architekturbüros suchen Fachleute, die Gebäudekonzepte nach EU-Taxonomie-Regeln entwickeln können.
Für viele Beschäftigte eröffnen sich damit ungeahnte Chancen – vorausgesetzt, sie sind bereit, sich weiterzubilden. Markus Neumann meldete sich vor einem Jahr für ein berufsbegleitendes Zertifikat „Sustainability in Engineering“ an, angeboten von der IHK. „Anfangs war ich skeptisch, ob sich der Aufwand lohnt“, sagt er. „Aber inzwischen merke ich: Ohne dieses Wissen hätte ich in meiner Firma keine Zukunft.“ Tatsächlich investieren auch Unternehmen massiv in „Sustainability Upskilling“. Siemens schickt ganze Teams in Online-Kurse zu nachhaltiger Lieferkette, BASF bietet interne Trainings zu ESG-Standards an. Plattformen wie Coursera und edX verzeichnen Rekordzahlen bei Kursen zu Klimawissenschaft, Kreislaufwirtschaft und nachhaltigem Management. „Es reicht nicht, wenn nur die Nachhaltigkeitsabteilung Ahnung hat“, betont Anna Weber, HR-Managerin eines mittelständischen Maschinenbauers. „Wir brauchen in allen Bereichen Mitarbeiter, die verstehen, wie man Prozesse klimafreundlich gestaltet.“
Für viele Beschäftigte kommt ein weiterer Faktor hinzu: der Wunsch nach Sinn. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung geben mehr als 60 Prozent der Befragten an, dass sie ihre Arbeit als sinnvoller empfinden würden, wenn sie einen Beitrag zu Klimaschutz oder Nachhaltigkeit leisten. Green Skills sind damit nicht nur ein Karrierebooster, sondern auch ein Weg, persönliche Motivation zu finden. „Ich habe das Gefühl, dass ich wirklich etwas bewege“, sagt Neumann. „Das gibt mir eine ganz andere Energie.“
Doch nicht alle neuen ESG-Jobs halten, was sie versprechen. Kritiker warnen vor einem Boom des „Greenwashing“. Unternehmen schmücken sich mit Nachhaltigkeitsabteilungen, ohne wirklich tiefgreifende Veränderungen anzustoßen. „Das Risiko ist groß, dass Fachkräfte in Rollen landen, die mehr Schein als Sein sind“, sagt Ökonomin Müller. „Wichtig ist, genau hinzuschauen: Geht es um echte Transformation – oder um das nächste CSR-Hochglanzprospekt?“ Zudem wächst die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage. Während die Nachfrage nach Green Skills explodiert, gibt es noch zu wenige Weiterbildungsangebote und qualifizierte Fachkräfte. Eine OECD-Studie zeigt, dass gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen das Wissen über ESG-Standards oft noch fehlt.
Dennoch spricht vieles dafür, dass Nachhaltigkeit zum Standard wird. In fünf bis zehn Jahren könnte „Green Literacy“ genauso selbstverständlich sein wie digitale Kompetenz heute. Wer die Transformation verschläft, riskiert nicht nur Wettbewerbsnachteile, sondern auch den Anschluss am Arbeitsmarkt. Für Markus Neumann jedenfalls hat sich der Schritt gelohnt. Vor wenigen Wochen wurde er befördert – in eine Position, die es in seiner Firma vor drei Jahren noch gar nicht gab: Leiter „Sustainable Production“. „Es ist spannend, mitten in einem Wandel zu stehen, der gerade erst beginnt“, sagt er. „Und es fühlt sich gut an zu wissen, dass ich nicht nur an meiner Karriere arbeite, sondern auch an einer besseren Zukunft.“