In den Fabrikhallen von Wolfsburg übernehmen Roboter längst das Schweißen, Lackieren und Montieren. In den Bürotürmen von Frankfurt schreiben Algorithmen Handelsstrategien, prüfen Kreditanträge und sortieren Bewerbungen. Während Maschinen immer mehr Tätigkeiten übernehmen, rückt etwas anderes in den Vordergrund: das, was sie nicht können. Empathie, Kreativität, soziale Intelligenz – Fähigkeiten, die unter dem Schlagwort „Human Skills“ zusammengefasst werden. Sie gelten als entscheidender Faktor in einer Arbeitswelt, die von Automatisierung, KI und digitalen Routinen geprägt ist.
Das World Economic Forum formulierte es schon im „Future of Jobs Report“ von 2023 deutlich: Neben technologischem Know-how werde vor allem die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, Probleme kreativ zu lösen und Resilienz zu zeigen, den Ausschlag geben, ob jemand beruflich erfolgreich ist. „Die Hälfte der Unternehmen weltweit erwartet, dass Empathie und soziale Kompetenzen wichtiger werden als reine Fachkenntnis“, heißt es in dem Bericht.
Doch warum gerade Empathie? Der Ökonom Richard Sennett, bekannt für seine Analysen der Arbeitsgesellschaft, schrieb bereits in „The Culture of the New Capitalism“ (2006), dass moderne Organisationen Flexibilität fordern, die Menschen aber dadurch oft ihre Bindungen verlieren. Empathie sei die Ressource, um neue Bindungen zu schaffen und Vertrauen in dynamischen Umfeldern aufrechtzuerhalten. Während die KI aus Daten Muster erkennt, bleibt das Verständnis für Zwischentöne, für das, was unausgesprochen bleibt, eine zutiefst menschliche Fähigkeit.
Ein Beispiel dafür liefert die Medizin. Der kanadische Mediziner Brian Goldman betont in seinem Buch „The Power of Kindness“ (2018), dass technische Expertise zwar Leben retten könne, aber ohne Empathie das Vertrauen zwischen Arzt und Patient schwinde. In Zeiten von Telemedizin und automatisierter Diagnostik sei das menschliche Einfühlungsvermögen entscheidend für Heilungserfolge. Ähnliches gilt im Personalwesen: Unternehmen wie SAP oder Microsoft haben Programme zur Förderung „empathischer Führung“ aufgelegt, weil sie erkannt haben, dass psychologische Sicherheit Teams innovativer macht.
Interessanterweise zeigt sich, dass Empathie nicht nur moralisch wünschenswert, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist. Eine Studie der Harvard Business Review aus dem Jahr 2021 belegt, dass Unternehmen mit einem hohen Maß an „compassionate leadership“ weniger Fluktuation und eine höhere Produktivität aufweisen. Mitarbeitende fühlen sich gehört und verstanden – und bleiben dadurch loyaler. In einer Arbeitswelt, in der Fachkräftemangel zum strukturellen Problem geworden ist, wird Empathie so zum Wettbewerbsvorteil.
Gleichzeitig birgt die Aufwertung der Human Skills auch eine Gefahr: Sie können instrumentalisiert werden. Die Soziologin Eva Illouz hat mehrfach davor gewarnt, dass Gefühle im Kapitalismus zunehmend ökonomisiert werden. In ihrem Buch „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ (2006) beschreibt sie, wie Unternehmen Emotionen als Ressource entdecken – und Empathie nicht als menschliche Haltung, sondern als „Skill“ bewerten, messen und trainieren wollen. Damit droht Empathie selbst zur Maschine zu werden: standardisiert und entleert.
Wie aber kann Empathie authentisch gefördert werden? Bildungsforscher verweisen auf die Bedeutung frühkindlicher Erziehung und sozialer Lernräume. Doch auch in der Weiterbildung gewinnt das Thema an Gewicht. Die OECD forderte 2022 in einem Bericht, dass Human Skills systematisch in Curricula integriert werden müssen. „Es geht nicht darum, Empathie zu instrumentalisieren, sondern Räume zu schaffen, in denen Menschen Resonanz erleben und üben können“, sagte die Bildungsforscherin Geraldine Fitzpatrick von der TU Wien im Gespräch mit dem Standard.
Auch die deutsche Politik hat die Relevanz erkannt. Arbeitsminister Hubertus Heil sprach 2023 von der „neuen sozialen Frage“ der Digitalisierung: nicht nur, wie Arbeitsplätze erhalten werden, sondern wie menschliche Kompetenzen gestärkt werden können. „Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der Technologie dem Menschen dient – und nicht umgekehrt“, betonte Heil bei einer Rede zur Arbeitswelt der Zukunft.
Ein weiteres Feld, in dem Human Skills unverzichtbar werden, ist die internationale Zusammenarbeit. In einer multipolaren Weltordnung, in der globale Krisen – vom Klimawandel bis zu Pandemien – gemeinsame Lösungen erfordern, reicht technisches Fachwissen nicht aus. Diplomatie, interkulturelle Verständigung, die Fähigkeit zuzuhören und Kompromisse auszuhandeln, rücken in den Vordergrund. Die Politikwissenschaftlerin Joseph Nye prägte dafür den Begriff der „soft power“. Heute könnte man ergänzen: Ohne Empathie bleibt diese Machtform stumpf.
Doch lässt sich Empathie in einer Gesellschaft, die immer stärker polarisiert ist, überhaupt bewahren? Während soziale Medien oft Empörung und Zuspitzung belohnen, erfordert Empathie genau das Gegenteil: die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen, Ambivalenz auszuhalten, zuzuhören. Der Psychologe Daniel Goleman, der den Begriff der „emotionalen Intelligenz“ populär machte, warnt in Interviews immer wieder davor, dass digitale Kommunikationsformen zu einem „Empathie-Verlust“ führen könnten.
Genau deshalb, so argumentieren viele Experten, ist die bewusste Kultivierung von Human Skills eine Überlebensfrage für die Demokratie. Wenn Algorithmen entscheiden, welche Informationen wir sehen, und Künstliche Intelligenzen Texte, Bilder und Stimmen generieren, bleibt es die Aufgabe des Menschen, Sinn zu stiften, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen aufzubauen. Empathie wird damit nicht nur zur ökonomischen, sondern zur gesellschaftlichen Kernkompetenz.
Vielleicht liegt darin der eigentliche Paradigmenwechsel: Während die industrielle Revolution Maschinen baute, die stärker waren als Menschen, baut die digitale Revolution Systeme, die klüger scheinen. Doch die menschliche Fähigkeit zur Empathie bleibt einzigartig – und in einer automatisierten Welt wird sie wichtiger denn je.