Wenn der Azubi den Chef coacht

Reverse Mentoring bringt frischen Wind in eingefahrene Führungsetagen – und zeigt, wie Unternehmen von der Generation Z lernen können.

Als Sophia Gerstl zum ersten Mal mit dem Vorstand eines großen Versicherungsunternehmens am Tisch saß, war sie nervös. Die Auszubildende, Anfang 20, sollte dem erfahrenen Manager erklären, wie ihre Generation über Diversity denkt – und was „Social Media-Kompetenz“ heute wirklich bedeutet. „Ich war überrascht, wie offen mein Gegenüber war“, sagt sie rückblickend. „Am Ende hatten wir mehr gemeinsam, als ich dachte.“

Sophia ist Teil eines Reverse-Mentoring-Programms der ERGO-Versicherung. Die Idee: Junge Mitarbeitende coachen ältere Führungskräfte – etwa zu Themen wie Digitalisierung, Diversität oder Generationenverständnis. Was auf den ersten Blick wie ein PR-Gag klingt, ist in vielen Unternehmen längst gelebte Praxis. Konzerne wie IBM, Microsoft, Telekom oder die DZ Bank setzen bewusst auf dieses Modell. Die Hoffnung: frische Impulse in festgefahrene Strukturen bringen – und verlernte Offenheit wiederbeleben.

Hierarchie? Umgekehrt.

Reverse Mentoring kehrt die klassische Wissensvermittlung um. Statt „Senior berät Junior“ gilt: Die Jüngeren übernehmen die Führungsrolle – zumindest temporär, zumindest inhaltlich. Das Konzept wurde bereits in den 1990er-Jahren bekannt, als der damalige General-Electric-CEO Jack Welch junge Mitarbeitende als digitale Coaches für das Topmanagement einsetzte – ein Vorgriff auf die Herausforderungen der Digitalisierung, über die der Harvard Business Review später ausführlich berichtete.

Heute wird das Modell neu interpretiert. Bei der ERGO-Versicherung etwa wurde 2024 ein unternehmensweites Pilotprojekt gestartet, in dem vier Gen-Z-Mentees Führungskräfte in digitalen Fragen berieten. „Es geht nicht nur um Technik, sondern um ein neues Mindset“, erklärt Anja-Christina Schwenck, Leiterin Organisationsentwicklung bei ERGO. Der Austausch mit der jungen Generation fördere Empathie, ermögliche Perspektivwechsel – und verbessere sogar die Führungskompetenz. Die Ergebnisse wurden im unternehmenseigenen Nachhaltigkeitsbericht dokumentiert.

Auch bei der DZ Bank läuft ein solches Programm. Michael Lichtenberg, Bereichsleiter für Personalstrategie, wurde dort von der 23-jährigen Sukhi Virk gecoacht. In internen Interviews beschreibt er die Zusammenarbeit als „Augen öffnend“ – insbesondere, was Erwartungen der jungen Generation an Führung und Arbeitskultur betrifft. Sukhi wiederum lobt die Bereitschaft zur Offenheit: „Ich hatte nie das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.“ Die Bank will das Programm nun auf andere Bereiche ausweiten.

Lernen in zwei Richtungen

Was auf der Oberfläche wie ein Coaching-Angebot aussieht, ist in Wahrheit ein kulturveränderndes Werkzeug. Studien der internationalen HR-Plattform Together (2023) zeigen: Unternehmen mit aktiven Reverse-Mentoring-Programmen berichten signifikant häufiger von Innovationsimpulsen, höherer Zufriedenheit bei Nachwuchstalenten und besserem Generationenverständnis. Gleichzeitig erfordert das Format Mut – von beiden Seiten. „Führungskräfte müssen loslassen können“, sagt Werner Bruns, Professor für Personalentwicklung an der Rheinischen Fachhochschule Köln. „Und junge Mitarbeitende müssen lernen, auf Augenhöhe zu kommunizieren – mit Menschen, die oft doppelt so alt sind.“

Bruns sieht in Reverse Mentoring eine kleine Revolution: „Der klassische Wissenstransfer kehrt sich um – das hat es in dieser Form in der Geschichte der Arbeit so noch nicht gegeben.“ Voraussetzung für den Erfolg sei allerdings eine Unternehmenskultur, die Vertrauen und Offenheit ermögliche. Wo diese fehle, drohe das Format zur Farce zu verkommen.

Digitale Fitness als Standortfaktor

Dass viele Unternehmen bei der Digitalisierung hinterherhinken, ist kein Geheimnis. Laut der „Global Digital IQ Survey“ von PwC (2024) betrachten 75 Prozent der Führungskräfte die mangelnde digitale Kompetenz als strategisches Risiko für ihre Organisation. Reverse Mentoring kann diese Lücke zumindest teilweise schließen – indem das Wissen der Digital Natives systematisch genutzt wird.

Gleichzeitig verändert sich auch der Anspruch der jungen Generation. Laut einer Studie des Institute for Human Resource Development (2023) wünschen sich über 80 Prozent der unter 30-Jährigen aktiv Mitgestaltung, flache Hierarchien und transparente Kommunikation. Reverse Mentoring kann hier als Instrument zur Mitarbeiterbindung dienen – wenn es ehrlich gemeint ist und nicht als Feigenblatt für fehlende Strukturveränderung herhalten muss.

Mehr als ein Trend

„Viele Führungskräfte berichten, dass sie durch Reverse Mentoring ein besseres Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungen gewonnen haben – etwa im Bereich Diversity oder Mental Health“, sagt Schwenck von ERGO. Sie beobachtet, dass Führung neu gedacht wird – nicht mehr als Top-down, sondern als lernende Beziehung. Die Tandems seien produktiver, wenn beide Seiten echtes Interesse mitbringen und bereit sind, alte Muster infrage zu stellen.

Dafür braucht es eine klare Struktur: Eine Laufzeit von sechs bis zwölf Monaten, regelmäßige Treffen, Feedbackschleifen und – ganz entscheidend – freiwillige Teilnahme. Die besten Ergebnisse zeigen sich, wenn Tandems sorgfältig gematcht werden und auf Augenhöhe agieren. Ein Erfolgsmodell, das sich – richtig umgesetzt – auch in KMUs und Verwaltungen adaptieren lässt.

Führung neu denken

Reverse Mentoring ist kein Allheilmittel – aber ein wirksames Instrument in einer Zeit, in der sich Arbeit, Kommunikation und Machtverhältnisse rasant verändern. Wenn Unternehmen bereit sind, klassische Hierarchien zumindest temporär aufzubrechen, gewinnen sie nicht nur digitale Kompetenz, sondern auch kulturelle Reife. Die Generation Z will gehört werden – und hat viel zu sagen.

„Ich habe gelernt, wie wichtig unsere Perspektive für die Zukunft eines Unternehmens ist“, sagt Sophia Gerstl. „Und ich glaube, mein Mentee hat das auch erkannt.“

Teilen:

Ähnliche Themen