Rational gesehen sind wir irrationale Wesen

Der größte Unterschied zwischen Mensch und Tier ist womöglich die  Befähigung des Menschen zum rationalen Denken. Aber nutzen wir Menschen diese Fähgikeit und agieren wirklich stets rational? Handeln und Denken wir mit der Vernunft übereinstimmend, so wie der Duden das Wort „rational“ definiert? Ohne Zweifel sind Menschen zu Leistungen in der Lage, die uns eindrucksvoll von Tieren unterscheiden. Wir haben eine äußerst komplexe Sprache, mit unserem technischen Verständnis schaffen wir unglaubliche neue Dinge, außerdem können wir über uns selbst und den Sinn des Lebens reflektieren. Aber uns als durchweg rational wahrzunehmen, wäre im höchsten Maße irrational. Ich möchte einige psychologische Effekte vorstellen, die deutlich aufzeigen, dass unser Denken mit Vernunft häufig wenig zu tun hat.

 

Fangen wir mit der Schilderung eines kleinen Experiments an: „Linda ist 31 Jahre alt, sehr intelligent und nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie hat Philosophie studiert und sich als Studentin intensiv mit Fragen sozialer Gerechtigkeit auseinandergesetzt. Außerdem hat sie an Anti-Kernkraft-Demonstrationen teilgenommen.“ Was ist wahrscheinlicher, wird nun gefragt: A) Linda ist Bankangestellte; B) Linda ist Bankangestellte und in der Frauenbewegung aktiv. Im Experiment von Tversky und Kahnemann (1973) tippten ca. 85 % der Teilnehmer auf Aussage B. Da Aussage A von Aussage B eingeschlossen wird, kann die Wahrscheinlichkeit für B nicht größer sein als für Aussage A. Es handelt sich hierbei um eine Repräsentativitätsheuristik. Die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen wird also danach beurteilt, inwieweit sie als typisch beziehungsweise repräsentativ erscheint. Was glauben Sie: Welche Kombination beim Lottospielen ist wahrscheinlicher? Kombination A: 6, 11, 19, 22, 37, 41 oder Kombination B: 1, 2, 3, 4, 5, 6? Richtig beide gleich! Zum rationalen Handeln gehört natürlich auch, Dinge objektiv zu bewerten. Der sogenannte Framing-effekt zeigt allerdings, dass die Formulierung und Einbettung einer Fragestellung für die Antworten von erheblicher Bedeutung sein kann. Beispiel: Würden Sie befürworten, dass die Regierung 10 Milliarden Euro zahlt, um 1000 Menschenleben zu retten? Oder anders: Würden Sie befürworten, dass die Regierung 10 Milliarden Euro zahlt, um die Zahl der jährlichen Verkehrstoten von 41.000 auf 40.000 zu reduzieren? Rational bewertet müssten beide Fragen gleich häufig mit Ja und Nein beantwortet werden. Werden Sie aber nicht!

 

Ein weiterer Effekt, der beeindruckend aufzeigt, wie einfach Menschen sich beeinflussen lassen, ist der sog. Ankereffekt. Bittet man Personen darum, die letzten vier Ziffern ihrer Sozialversicherungsnummer auswendig zu lernen und fragt sie daraufhin, wie hoch sie die Anzahl der Ärzte in New York schätzen, stellt man fest, dass sich die beiden Zahlen erstaunlich ähnlich sind. Selbst wenn es überhaupt keinen inhaltlichen Zusammenhang gibt, beeinflusst eine beliebige Zahl unsere späteren Urteile.

 

Abschließend möchte ich noch ein etwas erschreckendes Experiment vorstellen: Englich und Mussweiler (2001) haben in ihrer Versuchsanordnung 16 sehr erfahrenen Richtern Material ausgehändigt, in dem ein Vergewaltigungsdelikt geschildert wird. Den Richtern wurde zudem mitgeteilt, dass man den Fall ebenfalls einem Informatikstudenten vorgelegt hätte. Jedem zweiten Richter (Gruppe A) erzählten sie, dass der Informatikstudent ein Strafmaß von zwölf Monaten vorschlagen würde. Den anderen Richtern (Gruppe B) teilten sie mit, dass der Informatikstudent ein Strafmaß von 32 Monaten vorschlägt. Die Richter in Gruppe A setzen ihr Strafmaß auf durchschnittlich 28 Monate und die Richter der Gruppe B auf durchschnittlich 35 Monate fest. Gerade bei Richtern müsste man aber doch erwarten können, dass sie in ihrem Urteil nicht zu beeinflussen sind!

 

Nachdem ich nun aufgezeigt habe, dass wir Menschen ganz bestimmt nicht bis ins Letze rationale Wesen sind, stellt sich wohl die Frage: Ist es überhaupt erstrebenswert, immer rational zu denken? Man weiß beispielsweise von Menschen, die an einer Depression leiden, dass sie das Risiko für schwere Krankheiten und andere Gefahren realistischer einschätzen als andere Menschen… was für die empfundene Lebensqualität sicher kein positiver Effekt ist. Dann doch lieber ein wenig Irrationalität pflegen J

 

 

 

 

Tversky, A. & Kahneman, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 42, 207-232.

 

Englich, B., & Mussweiler, T. (2001). Sentencing under uncertainty: Anchoring effects in the court-room. Journal of Applied Social Psychology, 31, 1535Ð1551.

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